Ich bin vor kurzem aus den USA zurückgekommen. Eine der letzten Zeitungsmeldungen, die ich dort gelesen hatte, betraf den Strafprozess gegen Monsignore William J. Lynn. Lynn war ein enger Berater und Mitarbeiter des im Jänner 2012 verstorbenen Kardinals von Philadelphia, Anthony Bevilacqua. Lynn ist nicht einer jener über 6000 katholischen Priester, die in den USA in den letzten sechzig Jahren sexueller Gewalttaten gegenüber Kindern und Jugendlichen beschuldigt wurden, sondern der erste katholische Geistliche, der vor Gericht stand, weil er seine Verantwortung als kirchlicher Vorgesetzter hinsichtlich priesterlicher Sexualdelikte nicht wahrgenommen hatte. Im Jahre 1994 hatte Lynn eine Liste von 35 in der Erzdiözese Philadelphia tätigen Priestern verfasst, die bereits gerichtlich verurteilt worden waren oder zumindest beschuldigt wurden, Kindern und Jugendlichen sexuelle Gewalt zugefügt zu haben. Er legte Bevilacqua diese Liste vor. Doch auf Geheiß des Kardinals ließ er die Liste verschwinden, und die geistlichen Kinderschänder behielten ihre Stellen.
Ende Juni dieses Jahres wurde der 61-jährige Lynn von einem zwölfköpfigen Geschworenengericht schuldiggesprochen, durch sein Verhalten Kinder gefährdet zu haben. Unmittelbar nach dem Urteil legte Lynn seinen Priesterkragen ab und ließ sich von Polizeibeamten in eine Gefängniszelle führen. Ihm droht eine Haftstrafe von dreieinhalb bis sieben Jahren.
Im Gerichtsprozess rechtfertigte sich Monsignore Lynn damit, dass er nur ein willfähriger Untergebener seines kirchlichen Vorgesetzten gewesen sei. Er sagte aus, dass er davon überzeugt gewesen sei, die Anordnungen des Kardinals würden Ausdruck des Willens Gottes sein, dem gehorsam Folge zu leisten sei.
In Spokane im Nordwesten der USA habe ich mich als Gastprofessor an der von Jesuiten geleiteten Gonzaga University ein Jahr lang bemüht, Studierenden die Grundlagen der christlichen Moral zu vermitteln. Ich habe ihnen erklärt, dass es zahlreiche ethische Fragen gibt, die eine reflektierte Güter- und Wertabwägung erfordern, um zu angemessenen sittlichen Urteilen zu gelangen.
Wer Gehorsam als ausschließlich oder vorrangig positiv bewertet, bei Ungehorsam aber nichts als Wut und Ekel verspürt, verkennt die moralische Komplexität der Gehorsamsproblematik und unterbietet das Reflexionsniveau einer zeitgemäßen theologischen Ethik. Sowohl Monsignore Lynns Fall als auch die Erkenntnisse der Sozialpsychologie zeigen eindeutig auf, dass Gehorsam gegenüber dem Befehl einer übergeordneten Autorität nicht nur eine schwere Sünde im theologischen Sinn, sondern auch ein Verbrechen im straf- und menschenrechtlichen Sinn sein kann. Aus ethischer Perspektive sind die Begriffe des Gehorsams und des Ungehorsams instrumental und sittlich neutral. Gehorsam ohne jede weitere Präzisierung ist nicht besser als Ungehorsam. Ungehorsam ist von vornherein nicht schlechter als Gehorsam; in manchen Fällen ist er ein Recht und sogar eine Pflicht.
Reformen sind möglich
Wir wissen heute, dass die klerikale Gehorsamsstruktur und "eine gesellschaftliche Tendenz, den Klerus und andere Autoritäten zu begünstigen" (Papst Benedikt XVI.), Hauptursachen für den sogenannten " Missbrauchsskandal" in der katholischen Kirche darstellen. "Die klerikale Kultur", stellt der ehemalige Benediktinermönch und Psychotherapeut Richard Sipe fest, der 250 Prozesse gegen Kleriker als Sachverständiger begleitet hat, "basiert auf Geheimhaltung ... Die Identifikation mit dem Machtsystem entlastet die Individuen von persönlicher Verantwortung für die Folgen ihrer individuellen Handlungen."
Trotzdem hat Sipe die katholische Kirche nicht abgeschrieben. "Worauf setze ich meine Hoffnung für die Kirche und für uns alle, die wir uns über den Schutz unserer Kinder Sorgen machen?", fragt er sich. Seine Antwort lautet: "Auf Reform. Institutionelle und persönliche Reformen sind möglich."
Die österreichische Pfarrerinitiative, die übrigens auch in US-amerikanischen Medien wiederholt Erwähnung fand, fordert kirchliche Reformen, die heute sogar von manchen Bischöfen für wünschenswert oder zumindest möglich gehalten werden. Als Vincent Nichols kurz nach seinem Amtsantritt 2009 als katholischer Erzbischof von London-Westminster gefragt wurde, ob es in der römisch-katholischen Kirche nicht ebenso wie in ihrer anglikanischen Schwesterkirche über kurz oder lang Priesterinnen und Bischöfinnen geben werde und ob es eines Tages zur Segnung homosexueller Partnerschaften kommen könnte, antwortete Nichols: "Das weiß ich nicht. Wer weiß, was die Zukunft bringen wird?"
Mit einer solch laxen Einstellung könnte der katholische Erzbischof von London in Österreich derzeit nicht einmal Dechant von Gänserndorf werden.
(Kurt Remele, DER STANDARD, 3.7.2012 >>)
Autor
Kurt Remele lehrt Ethik und christliche Gesellschaftslehre an der Uni Graz.
2 Kommentare:
Vielleicht reden wir zuerst einmal vom wichtigsten Gehorsam, dem Gott gegenüber. Gäbe es da nicht so viel Ungehorsam, wäre der Menschheit und auch der Kirche viel Leid erspart geblieben.
Ungehorsam klingt zwar gut, aber in der Praxis wissen schon alle Eltern, welche Folgen der haben kann, wenn Kinder Regeln übertreten.
Und wie viele menschliche Katastrophen gibt es durch Ungehorsam auch dem weltlichen Gesetz gegebenüber? Ein Nachbarsmädchen wurde z.B. von einem "sportlichen" Fahrer, der mit 80 km/h durch die Ortschaft brauste, zum lebenslangen Krüppel gefahren. Nun will er noch nicht mal bezahlen und klagt sich durch alle Instanzen.
Toll?!
Sehr geehrte Frau Maurer,
ich stimme ihnen vollkommen zu, wenn sie von Apg 5,29 ausgehen. Der gelebte Gehorsam gegenüber Gott kann manchmal auch bedeuten, dass man Menschen gegenüber ungehorsam sein muss. Dabei ist der Ungehorsam kein Wert an sich, sondern schmerzliche aber zwingende Konsequenz gelebten Glaubens. Ohne Diskurs und Auseinandersetzung gibt es keine Wahrheitsfindung im christlichen Kontext. Schon die Apostel Johannes, Paulus und Petrus haben um die Wahrheit gerungen.
Blinder unreflektierter Gehorsam gegenüber Menschen ist unchristlich.
liebe Grüße
Markus Ankerl
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