Der designierte steirische Bischof Willi Krautwaschl spricht in seiner WG-Küche im Augustinum über überhöhte Strukturen in der Kirche, Biereinkäufe und sein Leben als Nerd
STANDARD: Was haben Sie gedacht, als Sie am Sonntag erfahren haben, dass mindestens 700 Menschen im Meer ertrunken sind, die sich in Europa Hilfe erhofft hatten?
Krautwaschl: Das können Sie nicht schreiben, was ich mir gedacht habe. Das ist zu scheußlich (er schüttelt sich). Aber auf der reflektiven Ebene habe ich mir später gedacht: Wir erleben uns ständig im Hinschauen und Wegschauen. Wir erleben Machtlosigkeit. Es ist unerträglich.
STANDARD: Was kann die katholische Kirche jetzt konkret tun, damit solche Tragödien im Mittelmeer nicht mehr passieren?
Krautwaschl: Die erste Reise des Papstes führte nach Lampedusa, und dass der dortige Bischof Kardinal wurde, ist auch ein Zeichen. Wir können nicht sagen, wir sind hier, und der Rest der Welt geht uns nichts an. Das ist ein dritter Weltkrieg, der gerade an verschiedenen Orten passiert. Wir können uns nicht abschotten.
STANDARD: Abschottung passiert an den EU-Außengrenzen aber sehr wohl.
Krautwaschl: Ich bin nicht in der Lage oder Verantwortung eines EU-Politikers.
STANDARD: Derzeit sind 600 Flüchtlinge in kirchlichen Einrichtungen der Steiermark zusätzlich zu den bestehenden Heimen der Caritas untergebracht. Haben Sie noch mehr Platz?
Krautwaschl: Wir werden schauen, was wir tun können. Klar macht vielen Leuten Angst, was fremd ist, aber durch Kennenlernen können diese Gräben überwunden werden. Hier im Haus haben wir zurzeit auch vier Asylwerber aus Syrien. Ein Internatszimmer wurde frei – da braucht man nicht lange debattieren.
STANDARD: Verfolgen Sie die heimische Politik?
Krautwaschl: Ein bissl. Was soll ich noch alles verfolgen? (lacht) Nein, im Ernst: Ich bin wahnsinnig dankbar, dass sich Leute noch bereiterklären, so eine Arbeit auf sich zu nehmen. Jeder schaut nur auf seine Pfründe, da nehme ich die Kirche nicht aus. Hut ab vor allen, die das Ganze, das Gemeinwohl im Blick haben.
STANDARD: Ist Verteilungsgerechtigkeit für Sie ein christlicher Begriff?
Krautwaschl: Hm. Da müsste ich den Neuhold Poldl fragen (Leopold Neuhold, Sozialethiker an der Uni Graz, Anm.). Die Frage ist, worum geht es uns wirklich? Geht es um den Menschen? Da werde ich mich in der Tagespolitik immer wieder zu Wort melden und diese Frage stellen. Auch die Frage, was uns alle verbindet, wird zu wenig gestellt. Ein anderer Blick auf etwas ist nichts Schlechtes, wenn sich jeder mit seiner Berufung einbringt. Ich suche jetzt einen neuen Generalvikar, und da schreibe ich allen, sie sollen mir helfen und mitreden. Der Krampf ist natürlich: Die Dechanten sind alle Männer, dabei sind über 60 Prozent unserer hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Frauen.
STANDARD: Man sagt, Sie kommen bei Firmlingen gut an. Was sagen Sie einem jungen Mädchen, das sich in der Kirche einbringen will – als Priesterin?
Krautwaschl: Das Weiheamt ist sowieso überhöht. Das Streben ist doch jenes nach Heiligkeit.
STANDARD: Soll das heißen, Sie sagen dem Mädel: "Priesterin kannst du nicht werden, aber heilig, wenn du dann gestorben bist?"
Krautwaschl: Nein, nein! Ich meine: Es gibt die Struktur, die wir geschaffen haben wie ein Skelett, und es gibt das Fleisch. Das Skelett ist ohne Fleisch gar nichts, und das Fleisch kann ohne Skelett nicht stehen. Ich bin in der Fokolar-Bewegung, die Mitte des vorigen Jahrhunderts von einer Frau, Chiara Lubich, gegründet wurde. Und unsere Präsidentin ist eine Frau.
STANDARD: Was ist das für eine Bewegung?
Krautwaschl: Fokolar heißt Feuerstelle im Trentiner Dialekt. Die haben sich mitten im Krieg unter Bomben zusammengesetzt und das Evangelium gelesen. Im Matthäusevangelium heißt es: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen." Das ist Kirche. Da steht nicht, dass das Männer sein müssen. Nicht einmal, dass das Christen sein müssen.
STANDARD: Das könnten auch Geschiedene sein oder Homosexuelle …
Krautwaschl: Natürlich. Und bei uns in der Kirche ist die Struktur wichtiger geworden als dieser Zugang aus dem Evangelium. Auf einer Tagung der Fokolar-Bewegung waren zum Beispiel auch Buddhisten. Lubich, sie ist 2008 gestorben, gestaltete auch einen Abend in der Moschee in Harlem, zu der Malcolm X gehörte. Wir gelten in der Ökumene als die, die den interreligiösen Dialog führen. Kirchenintern gelten wir als papsttreu.
STANDARD: Sie leben in einer WG und möchten das auch weiterhin tun. Wie kann man sich das vorstellen? "Golden Girls" – nur mit Priestern?
Krautwaschl: Da sind vier Studenten, die irgendwann in ihrem Leben Priester werden wollten, dann noch vier Priester. Mit mir sind wir neun. Wir haben vereinbart, wer was besorgt, wer den Müll runterbringt. Ich bin fürs Einkaufen fürs Frühstück am Samstag zuständig. Ich kann es mir nicht anders vorstellen, ich war nie allein. Zölibatär zu leben heißt ja nicht, beziehungslos zu leben. Wenn in den Ferien alle weg sind und auch das Internat leer ist, ertappe ich mich dabei, dass ich zusperren gehe. Sonst ist hier immer alles offen. Ein Wunder, dass noch nie wer Bier bei uns gestohlen hat.
STANDARD: Vielleicht kaufen Sie die falsche Marke?
Krautwaschl: Na ja, da gibt es bei uns in der WG die Billigeinkäufer und die Qualitätseinkäufer.
STANDARD: Und Sie wollen die WG in den Bischofssitz mitnehmen?
Krautwaschl: Ich kenne die Räumlichkeiten noch gar nicht, ich schaue sie mir am Freitag an. Die Haushälterin habe ich kennengelernt. Ich habe ihr gesagt, ich täte schon gern wenigstens manchmal selber einkaufen gehen. Mein Vorgänger hat ganz allein dort gelebt. Das kann ich mir nicht vorstellen. Als ich den Anruf vom Nuntius bekommen habe, dass ich Bischof werden soll, da habe ich mir einmal ein Bier aufgemacht, und dann sind mein Mitbewohner, der Günther Zgubic, und ein Student gekommen, und wir haben lange geredet. Schlafen habe ich nachher eh trotzdem nicht können. Bei den Studenten im Haus herrscht helle Aufregung, weil die sich fragen: Wo werden wir jetzt Champions League schauen?!
STANDARD: Am Bischofsplatz?
Krautwaschl: Warum nicht. Das Bischofsamt ist ja für die Leute da!
STANDARD: Sie bloggen, facebooken, twittern und spielen. Sind Sie ein Nerd im Talar?
Krautwaschl: Was ist ein Nerd? Ein Freak? Es taugt mir schon sehr. Wenn ich den Jugendlichen hier im Haus einmal Respekt einflößen wollte, habe ich mir nur ein neues Handy gekauft. (lacht) Gott ist doch eigentlich auch virtuell. Oder sehen Sie ihn hier irgendwo? Und ich vertraue trotzdem auf ihn. Wir werden schon sehen, ob ich falsch liege, wenn ich tot bin. Aber ich riskier's halt! Und es ist ein wahnsinnig tolles Abenteuer.
STANDARD: Ihr Wahlspruch ist "Gott ist die Liebe". Wie ist das mit der Liebe zwischen Homosexuellen oder der Liebe von Wiederverheirateten in der Kirche?
Krautwaschl: Es geht um die Liebe Gottes. Wenn ich mich zum Beispiel entscheide, Priester zu werden und ehelos zu leben, dann mache ich das im Vertrauen darauf, dass Gott mir dabei hilft. Ich als Eheloser brauche Eheleute, damit sie mir die Liebe Gottes in der Ehe sichtbar machen. Gott kann diese Liebe nicht wieder zurücknehmen.
STANDARD: Aber Sie können sie von der Kommunion ausschließen.
Krautwaschl: Manche kränkt das sehr. Andere fühlen sich nicht ernst genommen, wenn man das nicht tut. Da müssen wir uns was überlegen. Wir dürfen uns nicht von den Menschen verabschieden. Wir sprechen Leute nur heilig, nicht unheilig! Der richtige Weg ist nicht nur ein schmaler Grat, es geht nicht darum, was du formell alles erfüllst oder ob du zur Kommunion gehen kannst. Auch in der Analogie zu den Homosexuellen. Erst gestern habe ich einen Katholiken auf ein Bier getroffen, der zu seiner Homosexualität steht und den ich pastoral begleitet habe. Wieso soll ich den nicht mögen? Wer bin ich? Manche laufen Gefahr, über andere richten zu wollen.
STANDARD: Wie wird Sie das Bischofsamt verändern?
Krautwaschl: Ich bin nicht der, der am besten glaubt. Ich mache Kirche sichtbar. Jetzt kriege ich die Weihe und den Ring als Zeichen meiner Treue zu Christus, und ich stelle mir die Frage, die ich mir schon als Regens gestellt habe: Was täte ich in einer Diktatur? Fragen S' mich nicht!
STANDARD: Auch ohne Diktatur: Ist Christsein etwas Radikales?
Krautwaschl: Ja. Denn was heißt es, alle zu lieben? Das heißt nicht, dass ich sofort jedem um den Hals fallen muss. Aber ich muss mich immer wieder fragen: Halte ich manche Menschen bewusst außen vor? Die Katholiken sind ja dafür bekannt, dass sie sich die Latte, über die sie springen sollen, so hoch legen, dass sie immer drunterspringen müssen. Dann sagen sie: Ich bin sündhaft. Aber wir sind heilig. Wir sind direkt bei Gott. Zwischen uns und Gott ist keine Instanz. Die Religionen haben sich da reingestellt.
STANDARD: Wäre es nicht bald wieder einmal Zeit für ein Konzil?
Krautwaschl: Bald nicht. Zwischen den letzten waren ungefähr hundert Jahre.
STANDARD: Man könnte den Takt ja etwas erhöhen.
Krautwaschl: Wir müssen ja nicht überall mitgaloppieren.
STANDARD: Sind Sie papsttreu?
Krautwaschl: Ich hoffe – weil er mich sonst nicht ernannt hätte. (lacht laut)
STANDARD: Papst Franziskus ist ein populärer, volksnaher Papst. Aber mit seinem Sager über das Schlagen von Kindern "in Würde" hat er viele Menschen schwer irritiert. Was war da los?
Krautwaschl: Fragen S' ihn! Ich glaube, es ist sein Temperament mit ihm durchgegangen. Ich betone, dass ich nichts positiv an diesem Satz finde. Aber da stelle ich die gleiche Frage wie beim Priesteramt: Was ist der Papst in der Kirche? Auch da passiert eine unheimliche Erhöhung. Er ist ja nicht unfehlbar! Dieser Papst will sogar eine Streitkultur in der Kirche. Die Kirche ist nicht entweder-oder, sondern auch. (Colette M. Schmidt,
DER STANDARD, 22.4.2015)