Von Peter Paul Kaspar
Ein halbes Jahr Franziskus: Das Neue am gegenwärtigen Pontifikat besteht darin, dass der Papst von der Spitze in die Mitte des Kirchenvolks rückt. Franziskus mutet seiner Kirche zu, sich selbst zu reformieren. Und diese Reform hat längst begonnen.
Franziskus, ohne Nummerierung, weil der Einzige: Vor einem halben Jahr zum Papst gewählt –doch er präsentiert sich als Bischof von Rom, verweigert die kostbaren und gewichtigen Insignien und Amtsgewänder außer einem schlichten Ring und einem Metallkreuz, ebenso die Fahrt in den päpstlichen Limousinen, lehnt die Residenz im Vatikanischen Palast ab und mag nicht als Papst bezeichnet werden. „Heiliger Vater, darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte ein Kardinal beim gemeinsamen Frühstück im Pilgerhospiz. Die Antwort: „Aber bitte doch, heiliger Sohn!“
Schon am Abend der Wahl, auf der Loggia von St. Peter, gab es erste Signale für ein neues Amtsverständnis. Der neue Bischof von Rom wünschte einen „Guten Abend!“, bat um das Gebet der Gläubigen und verabschiedete sich nach dem Segen ganz weltlich mit „Gute Nacht!“. Es folgten wochenlang Berichte über unpäpstliches Verhalten und zahlreiche Verweigerungen hierarchischer Traditionen, am Gründonnerstag sogar ein dreifacher Traditionsbruch: Er feierte die Liturgie im Gefängnis und wusch Frauen die Füße, eine davon nicht einmal katholisch. Die gleichzeitig in ihren Kathedralen zelebrierenden Exzellenzen und Eminenzen sehen sich in ihrer Amtsführung, im Wohn- und Lebensstil in Frage gestellt. Franziskus – selbst Jesuit – führt im Alltag eine bescheidene franziskanische Lebensart vor und mahnt das bei den Priestern in den wohlhabenden Ländern mit Nachdruck ein.
Der elitäre Lebensstil vieler Bischöfe in Kleidung, Sprache, Wohn- und Reisegewohnheiten steht im Kontrast zu dem der Kollegen in armen Ländern. Dort leben höchste Amtsträger oft bescheidener als ein einfacher Pfarrer in Europa. Franziskus lebt offensichtlich gern unter den Rompilgern und hat – abseits von Dogmen, Enzykliken und Kirchenrecht – seine eigene Sprache gefunden, den neuen Kirchenkurs vorzugeben. Er belehrt eher durch Taten als mit Worten, dekretiert wenig, dogmatisiert nicht und spricht in den vielen – oft improvisierten – Ansprachen schlicht, unautoritär und mit diskretem Humor. In manchmal unbekümmert freier Diktion kommt auch schon mal der Teufel vor. Undogmatisch, fast spielerisch, vielleicht mit leisem Schmunzeln spricht er über Gott und die Welt.
Die ungewohnte Sprache lässt die Menschen aufhorchen. Natürlich weiß man, dass er sich vor seiner Bischofszeit als Professor erfolgreich in der Theologie umgetan hat. Jetzt spricht er als Seelsorger die Sprache der Herzen und bietet einen rhetorischen Kontrast zu Benedikt, dem Vorgänger und Gelehrtenpapst, mit dem er sich in einer gemeinsamen Enzyklika im päpstlichen Doppelpack vorstellt. Man spürt die Dialektik von Theologie und Diakonie: Hier spricht kein ungebildeter und bloß volkstümlicher Kirchenmann, sondern einer, der die Sprache des Volkes kennt und schätzt. Die Theologieprofessoren können beruhigt sein: Er wird auch mit ihnen in ihrer Sprache reden. Doch sind theologische Enzykliken, Lehrverurteilungen oder gar neue Dogmen kaum zu erwarten. Er wird wohl weniger den Lehrprimat des Papstes, sondern eher den Primat der Nächstenliebe, der Hilfsbereitschaft und des Trostes pflegen.
Hier wird vielleicht mancher enttäuscht sein, der vom obersten Lehrer der Kirche hohe Theologie erwartet: „thesaurus theologiae“ – theologische Schätze, lehramtlich streng bewahrt, vor Verunreinigungen geschützt und bei besonderen Anlässen zur Verehrung freigegeben. Franziskus ist das Handeln näher als das Belehren. So zeigt er sich empathisch, spontan und herzlich. Als Häresien erscheinen ihm die Hartherzigkeit, dieUntätigkeit und die Überheblichkeit. Er ist so etwas wie ein antihierarchischer Hierarch. Nach der biblischen Weisung, dass der Größte jener sei, der sich zum Diener aller macht, lebt er ein geradezu subversives, aber biblisches Amtsverständnis. Die alte Bezeichnung des Papstes als „servus servorum dei“ – als Diener der Diener Gottes – scheint seinemSelbstverständnis näher zu sein als das Amt des Inhabers von Unfehlbarkeit und Jurisdiktionsprimat, das autoritäre Papstbild vor 150 Jahren.
Das hier beschriebene Amtsverständnis ist ungewöhnlich: Denn das Erste Vatikanische Konzil hat 1870 in seiner kirchengeschichtlich einzigartigen Ermächtigung den Papst – damals Pius IX. – auf eine göttliche Ebene gestellt, als unfehlbaren, uneingeschränkten Herrscher über die Kirche, mit göttlichen Attributen: Stellvertreter Christi („Vicarius Christi“). Übereifrige Papstverehrer sprachen damals sogar vom Papst als „Vizegott“. Auf diesen Altar lässt sich der gegenwärtige Bischof von Rom sicherlich nicht stellen. Er hält es offensichtlich und namentlich mit Franz von Assisi, der sich zum Bruder „erniedrigte“ – auf einer Stufe mit den Leidenden und Bedürftigen, mit allen, die an Christus glauben, ja mit allen Menschen überhaupt. Vielleicht wird der Kirche mit diesem Papst der Realitätstest dessen abverlangt, was seit dem jüngsten Konzil (1962 bis 1965) klar sein müsste: dass die Kirche für die Menschen da ist. Nicht umgekehrt.
So antwortete Franziskus auf dem Rückflug von seiner Brasilienreise auf die Frage nach seiner Einstellung zu homosexuellem Verhalten: „Ich urteile nicht, wenn jemand Gott mit gutem Willen sucht.“ Ohne die kirchliche Lehre zu ändern, zeigt er Respekt vor einer redlichen und authentischen Lebenspraxis. Hinter solchen Überlegungen steht ein grundlegendes Konzept des hierarchischen Selbstverständnisses: Wer auch immer kraft seines Amtes spricht oder agiert, muss sich fragen, aus welcher Vollmacht, auswelchem Selbstverständnis und welcher Verantwortung er so und nicht anders spricht, urteilt oder handelt. Es gibt gute Gründe, an dieser Stelle über das bisherige Selbstverständnis des Papsttums im Vergleich zu dem des neuen Bischofs von Rom nachzudenken. Und es gibt gute Gründe zu erkennen, dass sich hier ein signifikant anderes Papstbild zeigt als bei seinen Vorgängern der jüngeren Vergangenheit.
Denn schon seine ersten Entscheidungen ließen aufhorchen: Er bestimmte eine Kardinalskommission mit Mitgliedern aus verschiedenen Kontinenten zur Reform der allzu zentralistischen Kurie zugunsten einer erneuerten kollegialen Kirchenleitung. Die bisherigen kurialen Amtsträger wurden nur vorläufig bestätigt, inzwischen aber ein neuer Staatssekretär ins Leitungsamt bestellt. Nach Informationen über diverse Missstände im Vatikan steht die Offenlegung und Erneuerung des päpstlichen Finanzwesens auf der Tagesordnung. Man hat aus guten Gründen das erste Jahr des neuen Pontifikates als jene Frist angesehen, die notwendig ist, um den Kurs der bereits angekündigten Kurien- und Kirchenreform absehen zu können. Was sich schon jetzt in Umrissen erkennen lässt, ist die Rolle des Papstes selbst, die aus ersten Anordnungen und zahlreichen Aussprüchen abzulesen ist.
Manche Beobachter sind verstört, dass Franziskus einerseits Reformen als notwendig sieht, andrerseits die Richtung noch wenig erkennen lässt. Diese Erwartung ist autoritätsfixiert, weil sie bloß darauf wartet, wohin der Papst die Kirche reformieren wird. Als ob die Kirche nicht aus Menschen bestünde, um die es in der Reform geht. Über die Köpfe der Menschen hinweg die Kirche zu gestalten ist nicht die Therapie, sondern die Krankheit. Die nun schon seit Jahren reformbemühten Priester- und Laiengruppen, zuletzt die sich international vernetzende Pfarrer-Initiative, melden sich kontinuierlich zu Wort. Vielleicht würde ihnen Franziskus so oder ähnlich antworten: Worauf wartet ihr? Wir müssen die Kirche ja gemeinsam reformieren. Also fangt einmal an! Es muss keine Reform von oben sein. Die meisten Reformen kamen schon bisher von unten – oder noch besser von unten und oben im Dialog.
Wenn allein der Papst an den Toren der Kirchenreform rüttelt, bleibt die Kirche in der autoritären Falle gefangen. Denn viele der scheinbar verschlossenen Türen sind in Wirklichkeit unversperrt. Offensichtlich meinen viele Katholiken, Reformen nur mehr in devoten Vorbringungen erbitten zu können. Der bereits in die neuere Kirchengeschichte eingegangene „Aufruf zum Ungehorsam“ hat allerdings rhetorisch die Mauer kirchlich-klerikaler Folgsamkeit durchbrochen – spektakulär genug mit weltweiter Folgewirkung. Wer den Text genau gelesen hat, konnte bemerken, dass er eine Liste bereits längst geübten Ungehorsams enthält. Die notorische Forderung, den Aufruf zum Ungehorsam zurückzunehmen, ist daher blasse Rhetorik: Denn die ungehorsamen Pfarrer haben etwas benannt, was bereits voll im Gange ist. Die Kirchenreform hat längst begonnen.
Denn Geschieden-Wiederverheiratete gehen wieder zur Kommunion, auch Ausgetretene tun das, die Predigt durch Laientheologen wird trotz offiziellen Verbots gepflegt, priesterlose Gottesdienste sind immer öfter der Not geschuldet, auch mit Kommunionempfang, der Priesterzölibat wird immer weniger eingehalten, die Gemeinden reagieren meist verständnisvoll, und homosexuelle Christinnen und Christen akzeptieren die herkömmlichen Verbote nicht mehr. Die Haltung der Bischöfe zu dieser Entwicklung schwankt zwischen höflicher Belehrung und bewusstem Ignorieren der wachsenden Dissonanz zwischen Kirchenlehre und Kirchenpraxis. Man erinnert sich, dass die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils in den deutschen Ländern ebenfalls durch „vorauseilenden Gehorsam“ um ein halbes Jahrhundert vorweggenommen wurde.
Der Vorwurf der Doppelmoral steht natürlich im Raum: eine offensichtlich traditionell katholische Deformation. Ein Großteil des Religionsunterrichtes, aber auch der Seelsorge wird nicht mehr von Priestern – diees ja immer weniger gibt –, sondern von gut ausgebildeten Frauen und Männer im Laienstand geleistet. Auch das ist vorweggenommene Kirchenreform von unten. Wie so oft in der Kirchengeschichte sind die Erneuerer –um das verpönte Wort „Reformer“ auch konform zu benennen – im Widerspruch zur Obrigkeit erfolgreich gewesen. Das war oft hart und stand bisweilen im Geruch der Ketzerei. Doch unter den verurteilten Irrlehrern der Kirchengeschichte finden sich so manche Kirchenpioniere – wie ja auch unter den Heiligen so manche Unheilige. Man kann sicher sein, dass Franziskus all dies weiß, deshalb den Befehlston meidet und sich des Dogmatisierens enthält.
Das eigentlich Neue am gegenwärtigen Pontifikat besteht darin, dass mit Franziskus der Papst von der Spitze in die Mitte des Kirchenvolks rückt und mehrheitsfähig wird. Das war als letzter Johannes XXIII. mit dem Versuch, seine Vollmacht ans Konzil zu delegieren. Die folgenden Päpste haben sich wieder an die Spitze gestellt – zuerst Paul VI. mit den Eingriffen ins Konzil und den Enzykliken zum Weltpriesterzölibat und zur Empfängnisverhütung. Seither kamen die Päpste nicht mehr aus der Kritik – auch die Bischofssynoden verloren zunehmend an Bedeutung. Mit Franziskus als Bischof von Rom scheint ein Neubeginn möglich – ohne die autoritätsfixierte Haltung, jede Kirchenreform allein vom Papst zu erwarten. Es würde ihn auch gegenüber konservativen Kritikern entlasten, wenn er die Entscheidungen nach unten delegiert. Eine solche Reformbewegung würde dem Kirchenverständnis des jüngsten Konzils als „Volk Gottes“ entsprechen: Franziskus mutet seiner Kirche zu, sich selbst zu reformieren. ■
Quelle: Die Presse
Leonardo Boff: "Ein Papst mitten im Volk"
Ob in Brasilien beim Weltjugendtag, auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa oder in einem römischen Jugendgefängnis: Papst Franziskus fordert eine arme Kirche für die Armen – und lebt diese auch. Schon jetzt hat Franziskus das Papsttum reformiert, ist der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff überzeugt.
Im Interview mit dem Portal Weltkirche spricht er über den Papst aus Lateinamerika, dessen Einfluss auf die strenge Kirchenhierarchie, über die Rehabilitation der Befreiungstheologie und den Sinn eines Pflichtzölibats.
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