Papst Benedikt XVI. hat sich in seiner Rede vor dem Bundestag auf die Naturrechtslehre eines Salzburger Emeritus gestützt. Das Naturrecht a la Wolfgang Waldstein ist das als Intuition ausgegebene Vorurteil.
Von Stephan Rixen
Von Stephan Rixen
Die „Vergesst mir das Naturrecht nicht“-Rede Benedikts XVI. vor dem Bundestag hat nicht nur unter den Abgeordneten für Irritationen gesorgt. Wer der Rede auf den Grund gehen will, kann sie auf der Homepage des Parlaments nachlesen - leider nicht vollständig. Die fünf Fußnoten, die der Papst seiner schriftlichen Redevorlage angefügt hatte, sind bei der elektronischen Übermittlung von Rom nach Berlin offenbar verlorengegangen. Auf der Homepage des Vatikans aber sind sie verfügbar, und das ist gut so, denn sie geben Aufschluss über einen Eideshelfer, dem der Papst bei dem Versuch folgt, neue Aufmerksamkeit auf das katholische Naturrechtsdenken zu lenken.
Wie in diesem Feuilleton bemerkt wurde (F.A.Z. vom 27. September), folgen in Benedikts Rede auf ein Augustinus- und ein Origines-Zitat drei Verweise auf Wolfgang Waldsteins Buch „Ins Herz geschrieben - Das Naturrecht als Fundament einer menschlichen Gesellschaft“. Auf gut 170 Seiten wirbt Waldstein für seine Lesart des katholischen Naturrechts. Waldstein, geboren 1928, ist emeritierter Ordinarius für Römisches Recht an der Universität Salzburg und hat auch an der Päpstlichen Lateran-Universität gelehrt. Sein Werk ist 2010 im Augsburger Sankt Ulrich Verlag erschienen.
Waldstein stellt schnell klar, wer sich im Irrtum befindet: Positivisten und Sozialisten, Anhänger der Fristenlösung, des Klonens und der „Euthanasie“, Befürworter des Adoptionsrechts gleichgeschlechtlicher Paare und jene, die nicht einsehen, dass aus „einer homosexuellen Verbindung natürlicherweise keine Familie hervorgehen“ könne. Er stellt Homosexualität mit „Päderastie oder Pädophilie auf eine Stufe. Es gelingt ihm, die Forderungen nach Gleichberechtigung homosexueller Menschen zu einem der wesentlichen Gründe für sexuelle Gewalt gegen Kinder umzudeuten. Es empört ihn, dass „längst vorliegende Forschungsergebnisse zur Homosexualität, die eine echte und humane Hilfe für Personen mit homosexuellen Neigungen möglich machen“, nicht hinreichend beachtet würden.
Wer Kritik an solchen Ansichten anmeldet, dem bescheinigt Waldstein eine „totalitäre“ Haltung. Sie passe zu einer in Europa verbreiteten „hedonistischen und marxistischen Ideologie“. „Parallelen zwischen der EU und der UdSSR“ sind für ihn, dessen Vater vor der Gewalt der Oktoberrevolution aus Russland fliehen musste, unverkennbar. Dass der seinerzeitige französische Europaminister Pierre Moscovici gegen eine Anrufung Gottes in der EU-Grundrechtecharta eingetreten sei, quittiert Waldstein, weil für ihn der Name „Moscovici“ nach Moskau klingt, mit der Bemerkung: „nomen est omen!“ Die „Tyrannei der Mehrheit“ führe zu einer „Diktatur des Pluralismus“, die mit Hilfe der Massenmedien die „Keule des Fundamentalismus“ schwinge, eine Formulierung, die Waldstein ausdrücklich von Joseph Ratzinger übernimmt.
Erkenntnistheorie sei etwas für Positivisten und Sozialisten
Hans Kelsen, dem großen Theoretiker des Rechtspositivismus, attestiert Waldstein, „dass er nicht weiß, wovon er spricht“. Gleichwohl holt ihn Waldstein heim ins Reich des Naturrechts, denn Kelsen habe im hohen Alter dem Dualismus zwischen Sein und Sollen abgeschworen. In einem Leserbrief in dieser Zeitung hat Waldstein vor wenigen Tagen (F.A.Z. vom 22. November) seine Kelsen-Interpretation gegen die Einwände Horst Dreiers (F.A.Z. vom 3. November) verteidigt.
Waldsteins Werbung für das Naturrecht ist eine unfreiwillige Warnung vor dessen Gefahren: erkenntnistheoretische Selbstentmündigung, eschatologisch aufgeladenes Freund-Feind-Denken, strukturelle politische Instrumentalisierbarkeit. Waldstein meint, allen Menschen, gleich ob katholisch oder nicht, sei es möglich, die Vernunft „in rechter Weise“ zu gebrauchen, nämlich durch „Intuition“, dann werde sich die Wahrheit des Naturrechts schon erschließen. Dass ein intuitiver Weltzugang beträchtliche erkenntnistheoretische Probleme aufwirft, ist für Waldstein kein Argument. Erkenntnistheorie ist etwas für Positivisten, Sozialisten und andere unsichere Kantonisten. Deshalb verwirft Waldstein das Denken am Leitfaden der erkenntnistheoretischen Unterscheidungen Kants, die uns darüber informieren, dass Begriffe unsere Wahrnehmungen prägen. Neukantianismus und kritischen Rationalismus identifiziert Waldstein ausdrücklich und aus seiner Sicht intuitiv als naturrechtswidrige Verirrungen. Dass die longue duree kultureller Überlieferung etwas über funktionierende Tradierungstechniken aussagt, nicht mehr und nicht weniger, ist für Waldstein bestenfalls „szientistische" Geistreichelei. Dass seit Jahrhunderten naturrechtlich gedacht wird, kann nur in der Natur des Menschen grundgelegt sein - basta!
Naturrecht ä la Waldstein ist konstitutiv polemogen, wie Niklas Luhmann das destruktiv-streitstiftende Potential ethischer Diskurse umschrieben hat. Naturrecht, wie Waldstein es versteht, ist im Kern eine ethische Position mit eingebautem Weltformelwahn. Eschatologisch überhitzt, verlangt sie, dass das Recht einer modernen Staatsgesellschaft letzte Fragen beantworten müsse, um vorletzte Fragen des Alltags bewältigen zu können. Sie neigt zur radikalen Verschärfung und gruppiert Menschen in gute und böse, in akzeptable und exkommunizierte, in gleiche und pastoral zu bemutternde. Dieser Hang zur Exklusivität, der die in staatlichen Gesetzen sich manifestierende Exklusion all derer verlangt, die anders sind, ist nicht weit entfernt von den totalitären Ideologien, gegen die Waldstein sich abgrenzt.
Naturrecht, wie Waldstein es propagiert, ist in besonderer Weise offen für politische Instrumentalisierung. Wer sich die Äußerungen der naturrechtlich inspirierten Bischöfe im französischen Vichy-Regime oder im Spanien der frühen Franco-Zeit vor Augen führt, wird sich intuitiv die Frage stellen, wo die Grenze zwischen ethischer Reflexion und politischer Korruption verläuft. Auch das Verhalten von Vertretern der akademischen, im traditionellen Naturrecht geschulten Theologie der Hitler-Zeit, die in der Lage waren, das Regime naturrechtlich gesundzubeten, wirft Fragen auf: weniger nach der Korruptionsanfälligkeit, wohl aber nach der Theoriefähigkeit des Naturrechts.
Mit der Rekatholisierung des Rechtes ist kein Staat zu machen
Wen also soll ein ethisches Konzept überzeugen, für das unverändert Konsenszonen zum autoritären, ja extremistischen politischen Denken charakteristisch sind? Wer will ein Naturrecht, vor dessen Tendenz zu „intolerant-perfektionistischer Verabsolutierung“ der frühere Richter des Bundesverfassungsgerichts und überzeugte Protestant Helmut Simon schon vor gut fünfzig Jahren in seiner berühmten Schrift über die „Katholisierung des Rechtes“ gewarnt hat? Staat ist mit einem solchen Naturrecht nicht zu machen, jedenfalls kein moderner Rechtsstaat der Inklusion, dem Phantasien der staatlich-rechtlich organisierten Abwertung anderer fremd sind.
Und umgekehrt ist zu fragen: Erschöpft sich in Waldsteins Werk das intellektuelle Niveau katholischen Naturrechtsdenkens? Wohl kaum, wenn man etwa im deutschen Sprachraum an die auch für Andersdenkende lehrreichen Studien des Tübinger Theologen Franz-Josef Bormann denkt, dem man wohl nicht zu nahe tritt, wenn man ihn nicht zu den üblichen Verdächtigen der akademischen Papstkritik zählt. Aber wieso kann dann Waldstein - neben Augustinus und Origines - zur Referenzgröße in der Rede des Papstes werden?
Spezifisch rechtswissenschaftliche Argumente, die für einen anderen Umgang mit dem katholischen Naturrecht sprechen, lassen sich im Werk Ernst-Wolfgang Böckenfördes finden, dem Benedikt XVI. nach seiner Rede im Freiburger Konzerthaus so lange und sichtlich berührt die Hand gereicht hat. Schon Ende der fünfziger Jahre ist Böckenförde für das „Ethos der modernen Demokratie“ und die „Bejahung der pluralistischen Gesellschaft“ durch die katholische Kirche eingetreten. Schon früh hat er die Auffassung zurückgewiesen, Katholiken könnten sich den verfassungsmäßigen Regeln der Demokratie durch Verweise auf das Naturrecht entziehen. In dem jüngst erschienenen langen biographischen Interview mit Dieter Gosewinkel (F.A.Z. vom 26. November) wird der große Beitrag Böckenfördes zur demokratieförderlichen Historisierung des katholischen Naturrechtsdenkens nochmals in Erinnerung gerufen. Naturrecht kann nicht mehr als eine philosophisch-politische Position unter vielen sein, die sich dem demokratischen Meinungsstreit stellen muss und nicht mit staatlichem Zwang als juristisch approbierte Rechtswahrheit aufgedrängt werden darf. Die Grundrechte des Grundgesetzes bringen die Pluralität der Menschen, nicht die Uniformität „des“ Menschen in Verfassungsform. Sie sperren sich gegen die Vereinnahmung durch ein einziges ethisches Vorverständnis,
Böckenförde hat in mehreren Beiträgen, die nach seiner Zeit als Richter des Bundesverfassungsgerichts entstanden sind, die manchmal nicht einfache Situation katholischer Juristen beschrieben, die ihren Glauben in einem freiheitlichen Verfassungsstaat zu leben versuchen. Das Leben mit all seinen Facetten erweist sich für den, dem katholisches Christsein am Herzen liegt und der doch Kind seiner Zeit ist, als complexio oppositorum. Das ist ohne verantwortliche Kompromisse nicht lebbar. Der vermeintlich naturrechtliche Hang zum unversöhnlichen Schwarzweißdenken kann hingegen nur in einer gesinnungsethisch reinen Parallelgesellschaft funktionieren, die sich sektenhaft von „der Welt“ abspaltet, statt sich ihr mit Gottes Hilfe tagtäglich neu auszusetzen.
Stephan Rixen lehrt Öffentliches Recht an der Universität Bayreuth.
FAZ Mittwoch, 30. November 2011S. 33
********************
YouTube
Papst - Rede im Bundestag - komplett - 22.09.2011 live
3 Kommentare:
Zitat: ... die sich sektenhaft von „der Welt“ abspaltet, statt sich ihr mit Gottes Hilfe tagtäglich neu auszusetzen./Zitat
Meint der Autor damit womöglich dasselbe wie der Papst, als dieser von der notwendigen "Entweltlichung" sprach?
Genau so verstehe ich es auch: das "Naturrecht" geht Hand in Hand mit der "Entweltlichung". Doch leider wird nicht das Reich Gottes, sondern wieder nur eine verlogene Parallelgesellschaft sichtbar: mit Missbrauchsfällen, Bankenskandalen und schwer bewaffneten Leibwächtern... und Vertuschung/Zensur mittels Machtmonopol...
Formelles: Bis zum Schluss bleibt unklar, welche so schrecklich anstößigen Zitate der Papst nun konkret verwendet. Statt dessen zieht Rixen über Waldstein her und meint dabei den Papst und die Kathol. Kirche zu treffen.
Zum Inhalt: Genau vor diesem Relativismus, dem Rixen das Wort redet, warnt der Papst. Es ist eben nicht alles gleich richtig, was auf der Börse der Meinungen zum Vorschein kommt. Wer sich gegen das Hitlerregime stellte, muss nach der Logik Rixens auch vom "unversöhnlichen Schwarzweißdenken" getrieben worden sein. - Darf man eine Meinung nicht propagieren, ohne gleich als "unversöhnlich" etikettiert zu werden?
Wenn der Papst etwas sagt, ist das schon "Vereinnahmung" und ist "aufgedrängt".
So schaut also die Toleranz der Liberalen aus, Andersdenkende zu disqualifizieren, nur weil sie anderer Meinung sind. Ist das noch Demokratie, auf die sich Rixen hier so gerne beruft? Sind nicht eher bei ihm "Konsenszonen zum autoritären, ja extremistischen politischen Denken" zu orten?
Dass er am Schluss noch Gott bemüht, um seinen Relativismus zu stützen, hat nur mehr Unterhaltungswert.
Kommentar veröffentlichen