In den vergangenen Monaten wurde vielfach über die Gründe für die derzeitige Krise des Katholizismus diskutiert. Sind die kirchlichen Strukturen oder eine mangelnde Lebendigkeit des Glaubens das entscheidende Problem? Und wie kann die Krise überwunden werden? Über diese Fragen sprachen wir mit dem Soziologen Franz-Xaver Kaufmann. Die Fragen stellte Stefan Orth.
HK: Herr Professor Kaufmann, innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland sorgt derzeit ein ganzes Bündel an Krisenphänomenen für Diskussionen. Was ist der Kern der gegenwärtigen Schwierigkeiten?
Kaufmann: Krisen sind in modernen Gesellschaften allgegenwärtig. Der Ausbruch aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit hat nicht zu einem Reich der Freiheit geführt, wie es die Aufklärung zuerst erwartet hat. Zwar wurden die Fesseln der Tradition gesprengt, so die Interpretation des Historikers Reinhart Koselleck, aber die Folge war ein fortgesetzter Wandel, ein Feld voller Spannungen, in dem sich die Menschen und ihre Gedanken behaupten müssen. Dieser Prozess hat in den vergangenen Jahren die katholische Kirche erreicht, viel stärker als zuvor. Recht lange hatte die Kirche durch ihre antimodernistische Selbstbehauptung seit dem 19. Jahrhundert, die in den Dogmen von 1870 kulminierte, die Katholiken und ihre sozialen Milieus vor diesen Einflüssen bewahren können.
HK: Was ist die Folge dieser bereits seit einiger Zeit andauernden Entwicklung?
Kaufmann: Die Phase, in der der Katholizismus von einer Sakralisierung seiner Organisation samt seiner Spitze zehrte, geht offenkundig zu Ende. Das ist der Kern dessen, um das es hier geht. Die Katholiken sehen inzwischen kritischer auch auf ihre eigene Kirche. Sie entdecken Vieles, was nicht nur einfach ungleichzeitig oder alternativ ist, sondern auch keine Überzeugungskraft mehr besitzt. Zum Beispiel der Umstand, dass die Kirche das Recht immer noch wie im 18. Jahrhundert ohne feste Regeln handhabt, dass Frauen nicht im gleichen Maße berücksichtigt werden wie Männer, oder dass die Entfremdung zwischen den Laien und dem Klerus größer wird - in einer Zeit, in der eher mehr Solidarität innerhalb der Kirche notwendig wäre. Und dann kam jetzt mit dem Missbrauchsskandal noch hinzu, was Erzbischof Robert Zollitsch die größte Krise der katholischen Kirche in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg genannt hat. Das Bekanntwerden des Missbrauchs hat deshalb so gravierend eingeschlagen, weil er dem Selbstverständnis der Kirche so hart ins Gesicht schlägt. Diese breite Vertrauenskrise wurde verstärkt, weil diese Dinge aus Kirchenräson so lange als möglich vertuscht worden sind. Alle anderen Krisenphänomene sind eher Probleme der gebildeteren Gläubigen.
HK: Manche sehen vor allem im Rückgang von Glaubenswissen und gelebter Religiosität den Wurzelgrund für alle anderen Krisenphänomene. Welche Rolle spielt die derzeit nicht weniger oft diagnostizierte Glaubenskrise für die gegenwärtige Situation der katholischen Kirche?
Kaufmann: Was man Glaubenskrise oder auch Gotteskrise nennt, ist gar nicht so eindeutig dingfest zu machen. Evident ist der Rückgang der Gottesdienstbeteiligung, der Rückgang des religiösen Wissens, die Verbannung der Religion an die Ränder unserer Kultur, vor allem der medialen Kultur. In der Moderne hat sich die gesellschaftliche Verfassung des Christentums grundlegend gewandelt, weil es sich in die hoch organisierten Kirchen einerseits und ein diffuses christlich imprägniertes Ethos in der Gesellschaft andererseits ausdifferenziert hat, die untereinander nur noch lose Beziehungen haben. Das ist eine völlig neue kulturelle Konstellation. Auch darauf hat sich die Kirche noch nicht richtig eingestellt. Aber dass der Gottesglaube unter Katholiken früher eine größere Rolle gespielt hat als heute, wie man gelegentlich behauptet, ist gar nicht so sicher.
„In der Periode des Antimodernismus gelang eine historisch vermutlich einmalige Synthese“
HK: Inwiefern haben Sie daran Zweifel?
Kaufmann: War das Gottesbild, wie es die Bibel zeichnet, jemals massenwirksam?, ist meine Gegenfrage. Diesen Glauben hatten wir innerhalb der Kirche höchstens in kleinen Kreisen erreicht, etwa in einzelnen Orden und anderen besonders religiös elitären Zirkeln. Mindestens bis in das 18. Jahrhundert hinein war die Magie ein ganz starkes Moment im gelebten Glauben von Christen. Vieles von dem, was seitdem unter der Theodizeefrage verhandelt wird, ist der Vorstellung von Gott als einer Art Superman geschuldet, der die Geschicke der Welt lenkt und dieses oder jenes bewirken kann und auch soll. Jesu Aufforderung, in seinem Namen zu bitten, ist aber so mit Sicherheit nicht gemeint gewesen. Natürlich ist es eine schöne Geste, wenn der Trainer der italienischen Fußball-Nationalmannschaft für einen Sieg eine Wallfahrt verspricht - und sie dann auch macht. Aber das jesuanische Glaubensverständnis wollte darüber hinausführen.
HK: Was heißt das aber nun für das Verhältnis der vielschichtigen Säkularisierungsprozesse und der Bedeutung des christlichen Glaubens?
Kaufmann: Kardinal Walter Kasper hat das Wort von der Glaubenskrise gegen die Strukturkrise in Position gebracht. Das war meines Erachtens nicht ganz glücklich. Johann Baptist Metz hatte zuvor schon länger von der Gotteskrise gesprochen, aber was eigentlich darunter zu verstehen sei, blieb unklar. Hans-Joachim Höhn spricht von einer Dispersion des Glaubens in den säkularen Bereich hinein, aber das hat es früher genauso gegeben. In der Periode des Antimodernismus gelang eine historisch vermutlich einmalige Synthese von Hochreligion und Volksreligion. Dabei blieb für den katholischen Volksteil weitgehend erhalten, was für das Mittelalter selbstverständlich war: die religiöse Durchdringung der Hoch- und der Alltagskultur. Heute dagegen werden große Teile unseres Alltags und der kulturellen Vorstellungen vom explizit Christlichen nicht mehr berührt. Man darf in diesem Zusammenhang jedoch nicht vergessen, dass das Christentum dennoch in unserer Kultur weiter wirkt. Wenn man die europäischen Wohlfahrtsstaaten mit anderen entwickelten, etwa asiatischen Staatswesen vergleicht, so wird deutlich, dass es dort keinen Respekt und keine Sicherheit für die sozial Benachteiligten außerhalb der Familie gibt. Wir sind nicht so egoistisch wie viele andere Kulturen. Unser Ethos der Hilfe wirkt bis in die aktuelle Solidarisierung der Staaten für den Euro, auch wenn da natürlich andere Interessen dominieren.
HK: Umgekehrt vertreten Sie die These, dass damit gleichzeitig die Verkirchlichung des Christentums einherging. Aber selbst die Kirche scheint doch offenkundig immer größere Schwierigkeiten damit zu haben, den christlichen Glauben lebendig zu halten ….
Kaufmann: Tatsächlich hängt die Frage nach der Attraktivität der Kirche daran, ob man ihr zutraut, dass sie etwas mit dem Göttlichen zu tun hat. Gescheitert ist jedoch die Präsentation in einer sakralen Form, bei der sich die Kirche fast an die Stelle Gottes setzt. Seit dem Mittelalter beanspruchen Päpste den Titel eines Stellvertreter Christi, der über die Fürsten dieser Welt befinden kann. Der Titel Vicarius Christi kam ursprünglich allen Priestern zu, weil sie in persona Christi das Messopfer darbringen sollen. Nun warf sich aber der Papst zum Zuchtmeister der Christenheit und zum Legitimationsbeschaffer für die Fürsten und Könige seiner Zeit auf. Diese Tradition ist über das Erste Vatikanum hinaus bis ins kirchliche Gesetzbuch von 1983 hinein wirksam. Die Folge ist bis heute eine auf undiskutablem Befehl und bedingungslosem Gehorsam beruhende hierarchische Ordnung, in der zuoberst neben dem Stellvertreter Christi viele Stellvertreter des Stellvertreters Christi agieren, die zuvorderst im Vatikan sitzen.
HK: Wie müsste demgegenüber die Kirche heute beschaffen sein, wenn sie sowohl für die eigenen Gläubigen als auch andere anziehender werden wollte?
Kaufmann: Ich frage mich, ob die Kirche mit der Sakralisierung der eigenen Hierarchie nicht genau jene Lücke moderner Gesellschaften verdeckt, die Jürgen Habermas das durch die Aufklärung Unabgegoltene der Religion nennt, anstatt sie sichtbar zu machen. Unsere Kultur braucht - im Sinne der negativen Theologie - Diskurse und zeichenhafte Taten, welche verdeutlichen, dass die Sehnsucht der Menschen über Wirtschaftswachstum und längere Lebenserwartung hinausreicht. Denn es ist ziemlich naheliegend, dass in einer relativ saturierten Gesellschaft wie der unseren Gott viel weniger „gebraucht“ wird als in einer stärker von Nöten geprägten. Allerdings gibt es auch heute psychische und materielle Nöte, die stärker anzusprechen den Kirchen gut anstehen würde. Caritas und Diakonie wissen davon durchaus ein Lied zu singen.
„Die gegenwärtige Situation wird sich nicht mit einem großen Kraftakt verändern lassen“
HK: Was wären da für Wege denkbar, um dem grassierenden Schwund an Vertrauen in die Kirche effektvoll entgegenzuwirken?
Kaufmann: Grundsätzlich müssen alle Verantwortlichen in der Kirche sich im Sinne des Missionsauftrags um plausible Angebote für die Gläubigen und Distanzierten bemühen. Wenn am Sonntag weniger Gottesdienste nachgefragt werden, ist es ein Irrtum zu meinen, dass man nur noch weniger anbieten müsse, und vor allem auch keine Alternativen anzubieten brauche. So geht eine Firma pleite - wenn man einmal einen solchen Vergleich ziehen darf. Die Kirche muss sich darüber hinaus immer wieder auch mit ihrem inneren Zustand beschäftigen. Da sieht man nun den rapiden Rückgang der Priesterweihen, der weniger mit einem Glaubensschwund zu tun hat, als ob etwa die jüngeren Theologen weniger gläubig seien, sondern mit der geringen Attraktivität dieses Berufs. Der Beruf des Weltpriesters hat jedenfalls im Unterschied zum Herrn Pfarrer unserer Jugend kein anziehendes Profil mehr. Nicht zuletzt deshalb ist auch die Zölibatsverpflichtung für Weltpriester heute problematisch, denn woher sollen sie noch emotionale Unterstützung bekommen, wenn ihnen keine Verwandte mehr den Haushalt führt? Das Thema ist ernst zu nehmen, denn es gibt genügend Hinweise, dass bei vielen Priestern eine Motivationskrise herrscht; ob sie bis in den Episkopat hineinreicht, kann man nur vermuten. Das aber ist der Frohen Botschaft nicht förderlich.
HK: Welche Zukunft kann dann aber die Kirche in unseren Breiten überhaupt noch haben?
Kaufmann: Es steht nicht zu befürchten, dass sich das Volkskirchliche vollkommen auflöst. Man sollte deshalb auch die Milieus, soweit sie noch vorhanden sind, pflegen - und da sind die gegenwärtigen Gemeindereformen Gift. Möglicherweise werden wir eher auf ein Beteiligungsniveau der evangelischen Kirchen schrumpfen, aber die meisten Menschen gehen noch davon aus, dass man die Kirchen irgendwo schon braucht - bis eine Bewegung kommt, die das Kirchensteuersystem energisch in Frage stellt. Aber da könnte Hilfe von unerwarteter Seite kommen, weil die Muslime und andere Glaubensgemeinschaften diese Möglichkeiten der Finanzierung auch gerne hätten. Wir werden in jedem Fall ein pluriformes Religionssystem in Deutschland bekommen, in dem aber die katholische Kirche immer noch ein wichtiger Akteur und wahrscheinlich auch fähig zur Agendasetzung bleiben wird. Die Kirche ist eine so tief in der Weltgeschichte verankerte Größe, dass man sich um ihren Untergang auch bei uns keine Sorgen machen muss, wohl aber um ihren Einfluss- und Bedeutungsverlust.
HK: Was aber sind angesichts des von Ihnen diagnostizierten Vertrauensschwunds und der zunehmenden Entfremdung zwischen den verschiedenen Ebenen des kirchlichen Lebens die Handlungsoptionen für die Kirche, um ein solches Schrumpfen möglicherweise doch in Grenzen halten zu können oder gar den Trend umzukehren?
Kaufmann: Soziologen sind in erster Linie Diagnostiker und es ist nicht ihre Aufgabe, Empfehlungen für die Zukunft zu geben. Als Selbstbeschreibung der Praxisrelevanz der Soziologie besonders treffend finde ich weiterhin einen Satz von Karl Marx: „Man muss diesen versteinerten Verhältnissen ihre Melodie vorsingen, dann fangen sie an zu tanzen.“ Was ich als Soziologe immerhin auch sagen kann: Die gegenwärtige Situation wird sich nicht mit einem großen Kraftakt verändern lassen. Die Geschichte geht immer noch über unsere Köpfe hinweg. Das ist gerade die Desillusionierung des aufklärerischen Fortschrittsglaubens gewesen: Wir können gar nicht so furchtbar viel machen, schon gar nicht so schnell, wie das oft gewünscht wird. Der Dialogprozess oder wie immer man diesen Vorgang auch nennen will, ist da eine Illusion - zumal dieser gerade durch die Struktur der katholischen Kirche selbst beeinträchtigt wird.
„Es geht zentral um das Problem der Mitbestimmung“
HK: Das heißt, ein Dialog innerhalb eines betont hierarchisch strukturierten Gebildes ist eine Art hölzernes Eisen?
Kaufmann: Die Bischöfe können eigentlich gar nichts konzedieren. Und auf der anderen Seite sind sie offensichtlich nicht in der Lage, überzeugend darzulegen, dass das, was in der römischen Kirche Lehre und Praxis ist, auch für unsere Zeit das Richtige ist. Da ist dann schon sehr fragwürdig, was mit einem solchen Dialogprozess gelingen soll.
HK: Ist der Dialog- oder Gesprächsprozess, wie ihn die Bischöfe lieber nennen, damit von vorneherein zum Scheitern verurteilt?
Kaufmann: So weit würde ich nicht gehen. Er kann immerhin wechselseitiges Verständnis schaffen. Es wäre ja äußerst wichtig, dass Laien, Kleriker und die Bischöfe miteinander unvoreingenommen sprechen. Das war das Großartige der Würzburger Synode, die eben für jene Generation auch bei den Bischöfen ein vertieftes Verständnis der Probleme der Laien mit sich gebracht hat, das bei den jüngeren Bischöfen heute nicht mehr so sehr vorhanden ist. Insofern kann man dem Dialogprozess schon etwas abgewinnen. Aber er wird wahrscheinlich auch zur Einsicht führen, dass die meisten Petita, die beispielsweise das Memorandum der Theologen im vergangenen Jahr aufgelistet hat, beim gegenwärtigen Zustand des Kirchenrechts nicht genehmigt werden können.
HK: Konkret wird in diesem Zusammenhang von verschiedenen Seiten gefordert, dass es in der katholischen Kirche auf allen Ebenen mehr synodale Strukturen brauche. Wäre das ein geeigneter Ansatz zur Überwindung der gegenwärtigen Schwierigkeiten?
Kaufmann: In der Tat geht es zentral um das Problem der Mitbestimmung, die unterschiedliche Formen annehmen kann. Ich spreche bewusst nicht von „Demokratie“. Im Unterschied dazu ist das Wort „synodal“, das bereits aus der alten Kirche stammt, kein säkulares Wort und daher geeigneter. Ebenso wichtig ist die Subsidiarität in der Kirche. Beides sind jedoch Dinge, die vom gegenwärtigen Kirchenrecht weitgehend ausgeschlossen werden. Es muss jedoch erst dem Weltepiskopat klar werden, dass die einseitige Abhängigkeit, in die das Kirchenrecht die Bischöfe von der römischen Zentrale bringt, etwas ist, was mit unserem Ethos heute eigentlich nicht mehr vereinbar ist.
HK: Warum ist dieses Auseinanderdriften zwischen dem Ethos der Menschen heute und den Selbstverständlichkeiten innerhalb des Sozialkörpers Kirche so gravierend? Was sind die entscheidenden Divergenzen?
Kaufmann: Die Welt hat sich seit dem 18. Jahrhundert verändert. Wir haben andere Normen, gegen die auch die Kirche ansonsten nichts einzuwenden hat: Sie bejaht Religionsfreiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Aber in ihren eigenen Strukturen bleibt sie in einem absolutistischen Modell befangen, das zudem, jedenfalls im Vatikan, nicht wirklich regelgebunden und daher verlässlich ist. Dass es keine Rechtskultur in der katholischen Kirche gibt, ist da zunehmend ein Ärgernis. Man muss hier im Übrigen durchaus unterscheiden zwischen dem Jurisdiktionsprimat des Papstes, den ich nicht in Frage stelle, und einem Recht in der Kirche, dessen Handhabung nicht im Belieben der kurialen Behörden liegen sollte.
HK: Solange sich an diesen Punkten nichts ändert, braucht man also auch nicht über die so genannten heißen Eisen diskutieren ….
Kaufmann: Man darf zumindest keine Lösungen erwarten. Ob eine stärkere Beteiligung von Frauen oder die Frage der Ehelosigkeit der Weltpriester: All diese Dinge werden bisher zentral entschieden, haben aber völlig unterschiedliche Wirkungen in den verschiedenen Ortskirchen - je nach Mentalität der Leute.
HK: Gilt das auch für das spezifische Verhältnis der deutschen Katholiken zum Vatikan?
Kaufmann: Viele Probleme entstehen tatsächlich dadurch, dass Deutschland ein Land der Reformation ist, und deshalb auch die Katholiken von der hohen Bedeutung der Wahrhaftigkeit, der Konsistenz zwischen Sprechen und Handeln und von der Würde des Rechts besonders überzeugt sind. Das ist in den südlichen Ländern - wie man jetzt an der Finanzkrise und den Diskussionen über die Zukunft des Euro sieht - keineswegs so ausgeprägt. Das ist wohl auch im Vatikan so. Die Italianità hat immerhin den großen Vorteil, dass sie in keiner Weise fundamentalistisch ist. Leben und leben lassen: Diese Maxime hat für das Klima in der Kirche auch seine Vorteile. Die italienischen Katholiken zeichnet eine merkwürdige Mischung aus Anhänglichkeit und Zynismus gegenüber der Kirche aus. Sie sind gewissermaßen daran gewöhnt, dass diese nicht tut, was sie sagt. Der Vatikan reagiert deshalb auch viel schärfer, wenn kirchliche Regeln in Frage gestellt, als wenn sie massenhaft verletzt werden. Das ist für uns Deutsche ein Ärgernis.
„Die Spannungen sind noch zu latent und vor allem noch nicht genügend artikuliert“
HK: Welche Rolle spielt dabei die zuletzt sehr starre Interpretation des kirchlich geforderten Gehorsams?
Kaufmann: Das kommt als Schwierigkeit noch dazu. Das ist gewissermaßen der moralische Überbau über dem Recht. Da hat man ganz besonders das Gefühl, dass die entsprechende Rhetorik in Deutschland ernster genommen wird als in anderen Ländern. Auch hier gilt, dass Katholiken, die auch vom Protestantismus geprägt sind, das alles viel ernster nehmen. Das mag belastend wirken.
HK: Es ist sicher kein Zufall, dass Benedikt XVI. gerade angesichts der Spezifika der deutschen Ortskirche bei der jüngsten Reise in sein Heimatland in Freiburg mehr „Entweltlichung“ innerhalb der Kirche gefordert hat. Gibt es in diesem Begriff auch Potenzial zur Überwindung der Krise?.
Kaufmann: In einem Punkt ist dem Papst durchaus recht zu geben. Für die Kirche ist es wichtig, dass ihre aus dem Glauben abgeleiteten Prioritäten die erste Stelle einnehmen - und nicht diejenigen des Rechtes oder des Geldes als die beiden Dominanten in unserer Gesellschaft. Aber der Begriff „Entweltlichung“ ist ein unglücklicher Begriff für das, was damit gemeint ist, weil er eine Dichotomie von Kirche und Welt behauptet, die es so in der Realität gar nicht gibt - wie alle diese Dichotomien nicht weiterhelfen. Die Kirche ist eine wesentlich geschichtliche Größe: Nur im Rückblick kann man im Ineinander von Heils- und Profangeschichte heilsgeschichtliche Momente ausmachen.
HK: Zumal man dann auch fragen müsste, was Entweltlichung für die Kurie und den Vatikan heißt ….
Kaufmann: Dazu wäre tatsächlich einiges zu sagen, wenn man derzeit allein an die Vatikanbank denkt.
HK: Die Aufgabe der Bischöfe, für die Positionen des Lehramts zu werben, ist das Eine. Gibt es umgekehrt nicht auch eine Bringschuld der Bischöfe, die Anliegen und Sorgen ihrer Ortskirchen in Rom vorzutragen?
Kaufmann: Das klassische Beispiel ist hier die Frage der Schwangerschaftskonfliktberatung, die ein ganz prominenter Knickpunkt in dem zuvor vertrauensvollen Verhältnis zwischen der deutschen Kirche und Rom geworden ist. Ich bin überzeugt, dass es nach wie vor Bischöfe gibt, die versuchen, in Rom mit Klugheit für bestimmte Dinge einzutreten. Aber viele Punkte sind auch rechtlich derart festgezurrt, dass es nicht damit getan ist, bei einzelnen Kardinälen oder gar beim Papst um Verständnis zu werben. Der heute viel gescholtene, aber durchaus bedeutende Paul VI. war im Grunde der einzige Papst, der diese Probleme angepackt hat.
HK: Inwiefern? Was waren seine entscheidenden Verdienste?
Kaufmann: Er hat eine Kurienreform umgesetzt und Vorarbeiten zum neuen kirchlichen Gesetzbuch durchgeführt. Als die Arbeiten dann unter Johannes Paul II. abgeschlossen worden sind, ist die vorgesehene Verwaltungsgerichtsbarkeit wieder herausgefallen. Bemerkenswert ist aber auch, wie er das Konzil in einer Weise zu Ende führte, die die Einheit der Kirche mit allen Spannungen und Widersprüchen bewahrt hat. Bei früheren Konzilien hat man sich manches Mal fast die Köpfe eingeschlagen, nach jedem bedeutenden Konzil hat es Abspaltungen gegeben. Von daher ist unsere Kirche heute nicht besonders gespalten. Da sind die Probleme mit den Piusbrüdern, denen man viel zu viel Bedeutung zumisst, minimal.
HK: Aber wie könnte denn überhaupt der jüngst auch von Ihnen beklagte römische Zentralismus überwunden werden? Wie sinnvoll sind vor diesem Hintergrund die Forderungen nach einem Dritten Vatikanischen Konzil, wenn man eher befürchten müsste, dass angesichts der Bischofsernennungen der vergangenen Jahrzehnte die Versammlung insgesamt einen stark strukturkonservativen Zug haben würde?.
Kaufmann: Dass die Kurie heute noch ein Konzil steuern könne, haben Kurienkardinäle vor dem Beginn des Zweiten Vatikanums auch geglaubt. Ich meine allerdings nicht, dass die Zeit schon reif ist für ein neues Konzil. Dafür sind die Spannungen noch zu latent und vor allem noch nicht genügend artikuliert. Nicht zuletzt in den oberen Etagen der Kirche müssten sich erst noch klarere Überzeugungen herauskristallisieren. Das kann noch einige Umwege mit sich bringen. Wir erleben derzeit einen Gärungsprozess. Die Kirche hat mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil einen großen Schritt in Richtung eines Dialogs mit der Moderne gemacht, aber ihn wenig konsequent fortgeführt. Der Schritt war bedeutend, aber eben auch an die Umstände jener Zeit gebunden. Die nachkonziliare Entwicklung wurde, nicht nur was die Kirchenstrukturen angeht, weitgehend von der Kurie gesteuert und der Geist der Verständigung zurückgedreht. Diese Spannungen müssen wir als Christen ertragen und sollten uns nicht allzu sehr darüber grämen, sie sind immerhin ein Zeichen von Vitalität der Kirche.
„Reformen aus biblischem Geiste sind nie von Rom ausgegangen“
HK: In Ihrem Kommentar zur Entweltlichungs-Forderung von Benedikt XVI. hatten Sie gefordert, der Vatikan müsse sich bei seinem zentralen Kontrollanspruch „auf weltkirchlich und biblisch Unabdingbares“ beschränken? Was wären demnach originäre Aufgaben für den Vatikan?
Kaufmann: Rom muss beispielsweise das Bestätigungsrecht für alle Bischöfe behalten, aber das Wahlverfahren wäre in weit stärkerem Maße zu dezentralisieren. Sowohl den Diözesen, aber auch den Bischofskonferenzen könnten hier mehr Kompetenzen eingeräumt werden. Auch gibt es ja durchaus Situationen in der Welt, wo die Kirche von politischen Einflüssen negativer Art betroffen ist, wo man sehr froh sein muss, dass es eine zentrale Instanz gibt - und wo man sich manches Mal auch wünschte, dass sich diese noch deutlicher bei Menschenrechtsverletzungen zu Wort meldet.
HK: Kardinal Walter Kasper hat auf dem Mannheimer Katholikentag davon gesprochen, dass die Zukunft der Kirche von „wachen Minderheiten“ abhängen würde. Wie müsste diese religiöse Avantgarde genauerhin aussehen?
Kaufmann: Gegen religiöse Bewegungen, wie sie die Orden gewesen sind und wie sie jetzt auch in verschiedenen moderneren Formen existieren, ist nichts zu sagen, auch wenn sie eher konservativ sind - wenn sie ihren Überzeugungen entsprechende Lebensformen praktizieren. Eine stärkere Liberalisierung wird nicht allein das Heilmittel für die Kirche der Zukunft sein. Allerdings gibt es ethische Ansprüche, die aus der Tradition des Liberalismus stammen, die meines Erachtens auch in der Kirche zur Geltung gebracht werden sollten. Aber sie beziehen sich weniger auf den Glauben.
HK: Was heißt das für die Zukunft des Glaubens?
Kaufmann: Der uns von Jesus Christus überlieferte Glaube kann bestenfalls als ein Ferment, als ein Katalysator wirken. Das kann auch in der Zukunft der Fall sein. Reformen aus biblischem Geiste sind nie von Rom ausgegangen. Selbst dem Tridentinischen Konzil gingen Ordensgründungen voraus. Damals war allen klar, dass es so nicht mehr weitergehen könne. Ähnlich war das Bewusstsein in der Spätzeit von Pius XII., wo man das Gefühl hatte, dass die Kirche erstarrt sei und der Antimodernismus einfach nicht mehr trage. Man denke etwa an Hans Urs von Balthasars Essay „Schleifung der Bastionen“. Ein solcher Problemdruck herrscht heute weltkirchlich aber noch lange nicht.
Zu Franz-Xaver Kaufmann: Er ist 1932 geboren, lehrte bis zu seiner Emeritierung Sozialpolitik und Soziologie an der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Sozialstaatstheorie, Soziologie der Familie und Familienpolitik, Religionssoziologie. Zu den neueren Veröffentlichungen zum Thema gehören: Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum?, Freiburg 2011; Kirche in der ambivalenten Moderne, Freiburg 2012.
Quelle: HerderKorrespondenz vom September 2012
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