Sonntag, 20. Oktober 2013
Gezähmte Beter
Wie haben Menschen doch früher gebetet!
Ich lese im Psalm 77:
„Ich rufe zum Herrn, ja, ich schreie zu ihm!
Des Nachts erhebe ich meine Hände,
meine Seele will sich nicht trösten lassen!“
Im Buch Judit heißt es:
„Und das ganze Volk fiel auf sein Angesicht
und schrie um Hilfe.“
Denn sie waren eingeschlossen.
Die Assyrer hatten die Brunnen besetzt,
die Zisternen waren leer,
weit und breit keine Wolke, kein Wasser!
Sie konnten die Tage zählen,
bis die letzten verdurstet sein
und die Israeliten tot
in die Hände der Assyrer fallen würden.
Da schrien sie zum Herrn
und sie wurden gerettet.
Und wie ist unser Gebet?
Wir brauchen Gebetbücher,
Vorlagen und Formeln!
Was beten wir?
Wie beten wir?
Rufen und schreien wir zu Gott?
Wir haben Regeln entwickelt,
wie, wann und was gesagt werden darf!
Was schnürt uns die Kehle zu?
Wer nimmt uns die Möglichkeit,
unseren Zorn, unsere Verbitterung,
unseren Ärger auch über Menschen
und über das Nichteingreifen Gottes
auszudrücken?
Wir schreien nicht,
wir sagen unsere Gebete auf!
Wir brauch vor Gott nichts zu verdrängen!
Vor IHM können wir sein, was wir sind:
Weinende,
Verzweifelte,
Klagende,
Tobende,
Lachende,
Feiernde,
Singende,
Tanzende!
Warum wollen wir vor Gott
bestimmte Seiten unseres Wesens verbergen?
ER will im Gebet lebendigen Menschen,
und nicht Mumien
begegnen.
Martin Gutl, Ich bin bei dir, 132f.
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