Anlässlich des Todes von Bischof Reinhold Stecher möchte ich seinen 2007 veröffentlichten offenen Brief zur Lage der Kirche bringen. Bischof Stecher antwortete damals auf den Artikel "Reizwort Gemeindezusammenlegung" von Prof. Medard Kehl SJ in Stimmen der Zeit 5/2007.
Dr. Reinhold Stecher, em. Bischof von Innsbruck
Lärchenstraße 39a
A – 6064 Rum
H.H.Prof. P. Dr. Medard Kehl SJ
Offenbacher Landstraße 224 D – 60599 Frankfurt
Sehr geehrter Herr Professor!
Für Ihren Artikel in den Stimmen der Zeit „Reizwort Gemeindezusammenlegung“ (5/2007)möchte ich Ihnen herzlich danken. Vor allem auch für den theologischen Hintergrund der „Kirche vor Ort“, von dem man sonst nicht viel hört.
Mir ist das „Reizwort“ in den letzten Jahren sehr vertraut geworden. Ich bin als Bischof nunmehr zehn Jahre im Ruhestand, und meine Hauptaufgabe wurden Exerzitien und Einkehrtage. Ich habe unter anderem etwa 1.300 Seelsorgspriester in Exerzitien vor mir gehabt (und ebenso viele Schwestern und Laien), von Norddeutschland bis ins Wallis und vom Elsaß bis ins Burgenland. In diesen leiseren Begegnungen habe ich die Probleme der Kirche mehr von der Innenseite kennengelernt, in persönlichen Gesprächen wie in den immer wieder gewünschten gemeinsamen Ausspracheabenden. Das sich mir eröffnende Bild ist überall das gleiche: Diese älter werdende Priestergeneration, die zu Exerzitien kommt, ist im Gesamten durchaus treu, sowohl in Lebensführung wie im Glauben, auch die Zölibatären Probleme sind für die meisten im menschlich normalen Bereich. Es ist auch so, dass die meisten von der Sinnhaftigkeit ihres Berufes getragen sind. Ihre Motivation schöpfen sie aus dem Auftrag des Herrn und der Verbundenheit mit der Herde.
Allerdings musste ich feststellen, dass Rom und die Hierarchie als motivierende Kraft immer schwächer werden. Es öffnet sich hier die Kluft einer emotionalen Entfremdung, die mir Sorge macht, weil ich emotionale Entfremdungen für schwerwiegender halte als den einen oder anderen aktuellen Streit. Diese Entfremdung ist natürlich je nach der Persönlichkeit des Bischofs verschärft oder gemildert, aber sie ist da.
Es gibt viele Hintergründe für diese Entfremdung. Einer liegt sicher darin, dass Rom konsequent die Ernennung von Bischöfen, die vom überwiegenden Vertrauen ihrer Mitbrüder und des Volkes getragen sind, ablehnt. Ich habe selbst derartige Befragungen in höchster Diskretion durchgeführt (außer mir wusste niemand das Ergebnis) und weiß, dass Kandidaten mit dem durch Jahre und Jahrzehnte erworbenen Vertrauenspolster in Rom nicht erwünscht sind. Man tendiert mehr zum Statthalter statt zum Hirten. Damit ist aber notwendigerweise verbunden, dass immer weniger Bischöfe aus der Erfahrung der kleinen, alltäglichen Seelsorge kommen und darin das Qualitätssiegel des Erfolgreichen und bei den Menschen und den Mitbrüdern Angekommenen tragen. Man denke nur daran, dass alle heiligen Ordensgründer die Ergänzung der Autoritätsträger aus dem Vertrauen der Untergebenen als selbstverständlich betrachtet haben. Der Stand der Seelsorgspriester ist in der Hierarchie weitgehend nicht mehr präsent, in der höchsten am allerwenigsten.
Ein anderer Grund sind Vorgaben der Leitung, die an der Basis nicht akzeptiert wurden. Mir ist nie ein Seelsorgspriester begegnet, der „Humanae vitae“ für richtig hält und verteidigt. Kardinal König, mit dem ich sehr befreundet war, hat mir gesagt, dass Paul VI. ihm auf seine Frage persönlich geantwortet habe, „er habe diesen Passus in Humanae Vitae doch nicht so ernst genommen“. Gerade diese Lehre wurde aber in einer Geheimanweisung an die Nuntien zur eigentlichen Qualitätsprobe für das Bischofsamt unter Johannes Paul II. erhoben. Für die Seelsorger an der Basis ist diese Lehre nie begründbar und akzeptabel gewesen. Ich weiß in der Kirchengeschichte nicht viele Beispiele einer perfekteren „doctrina non acceptata“. Ein anderer Grund, in dem die Seelsorger an der Basis mit der offiziellen Linie der Kirche nicht übereinstimmen, ist der pastorale Umgang mit geschiedenen Wiederverheirateten ohne jede Rücksicht auf ihre religiöse Verfasstheit und Sehnsucht. De facto wird dieses sakramentale Verbot nicht durchgeführt – aber eben auf Kosten einer inneren Gemeinsamkeit mit Rom. In Deutschland ist ein weiterer Grund der ganze Vorgang mit der Schwangerschaftsberatung.
Ich habe in den entstandenen Diskussionen (ich spreche diese Kontroversthemen in den Exerzitien an sich nicht an) einen Priester Rom verteidigen hören – und der brachte nur das Autoritätsargument.
Und nun ist ein weiterer Entfremdungsgrund das von Ihnen angeschlagene Thema der so genannten Gemeindezusammenlegungen. Die Seelsorgspriester wurden zu diesen „Lösungen“ kaum gefragt – sie haben ja kein Podium, auf dem sie mit Gewicht auftreten könnten. Die Priesterräte sind de facto und de jure belanglos. Pfarregemeinschaften, die auf die Folgen dieses Systems offen hinweisen, werden ins häretische Abseits gedrängt (so in Österreich). Die Seelsorger – und gerade die, die den Zölibat als Dienst an der Sache Jesu gelebt haben und leben – verstehen das „sakramentale Austrocknen“ der Kirche nicht. Und wenn man dazu sagt, die Priester sollten eben Anderes den Laien überlassen und sich auf das Sakramentale beschränken, dann wissen die erfahrenen Seelsorger, dass eben lebendige Sakramentalität in der Kirche den Aufbau menschlicher Beziehungen voraussetzt, dass z.B. die Krankensalbung sehr oft der Schlusspunkt einer längeren Betreuung und einfühlsamer Gespräche ist und nicht einfach ein mechanischer Akt, bei dem ein Unbekannter zu einem Unbekannten zu einer Geste und einem gemurmelten Wort gerufen wird. Genau das ist aber der Fall, wenn derWirkungsbereich des Priesters den Aufbau menschlicher Bezüge praktisch verunmöglicht.
Ich habe als Bischof in meiner Diözese zusammen mit den Pfarrern a l l e Alten, Kranken, nicht Gehfähigen besucht. Es sind gegen 6.000 geworden. Das war nur möglich, weil damals die Priester diese nachgehende sakramentale Seelsorge in überschaubaren Pfarren ausgeübt haben. In seelsorglichen Großräumen stirbt das. Und wer da glaubt, dies sei eine „quantité neglegeable“, der täuscht sich. Krankenseelsorge – das wissen alle guten Pfarrer – ist Familien-, ja sogar Fernstehendenseelsorge. Auch der kirchenentfremdete Enkel ist damit einverstanden.
Ich habe in einem Dekanat während des Sommers bis in die Berghöfe hinauf alle Alten und Kranken besucht. Als ich dann im Herbst, in Zivil, eine Bergtour beim Brenner allein machen wollte und mit dem ersten Frühzug nach Süden fuhr, sind die Arbeiter mit den gelben Helmen, die in den Tunnels beschäftigt sind, in den noch dunklen Zug eingestiegen. Da hat mich einer in der Ecke entdeckt und hat gesagt: Sie waren bei meinem Großvater, und ein anderer ist gekommen und hat gesagt, dass ich bei seiner Mutter war. Und im Nu saß ich unter einer Menge Arbeiter, und wir haben uns über Gott und die Welt unterhalten.Wenn ich noch so einen gescheiten Sozialhirtenbrief schreibe, setzt sich deshalb kein einziger Arbeiter in der Bahn neben mich.
Und das sind die pastoralen Dimensionen, die die hohe Kirche nicht mehr kennt. Und deshalb verstehen die meisten Seelsorger ihre Kirche nicht mehr. Das menschliche Gesetz des Pflichtzölibats wird über den Heilsauftrag gestellt. Natürlich stimmt die Argumentation, dass der einigermaßen echt als Entfaltung gelebte Zölibat ein großes Geschenk an die Kirche ist. Aber nirgendwo gibt es in der Offenbarung einen Rückhalt für die Ansicht, dass das sakramentale Heil nur durch unverheiratete Hände weitergegeben werden darf. So höre ich es von Priestern, die ihr ganzes Leben den Zölibat treu gehalten haben.
Die Praktiker der Seelsorge wissen, wie das mit den hochgejubelten „Großräumen“ in Wirklichkeit aussieht. Ich könnte unzählige Beispiele anführen, in denen die Übernahme derartiger Aufgaben als sinnlos empfunden wird (und Sinnlosigkeitserfahrungen sind der Hauptgrund für Stress und Berufskrisen).
Ich habe, sagt mir kürzlich ein deutscher Priester, eine Stadtpfarre, bin Dekan und habe drei weitere Pfarreien dazu. Ich weiß, dass dies ein Unding ist… dabei handelte es sich hier um einen ausgesprochen tüchtigen, spirituell bemühten und kooperativen Seelsorger. Die derzeit an Priester in solchen Diensten gestellten Aufgaben erfordern in besondererWeise hochqualifizierte, vitale und begabte Persönlichkeiten. Ich erlebe im Nachwuchs, beiWeihekandidaten und auch im Gespräch mit Ordensvorgesetzten und Regenten, dass dieser Typ heute eher selten wird.
Es kommen sehr oft introvertierte, sehr angepasste und wenig initiative junge Menschen, manchmal auch mit superkonservativ-hochwürdig-abgehobener Prägung, die schon für die Leitung überschaubarer Einheiten Schwierigkeiten haben.
Das alles bestärkt in den Seelsorgern den Eindruck, dass die höchste Kirchenleitung sich in einem hohen Maß von Realitätsverlust bewegt. Das manchmal in theoretischen Überlegungen hingeworfene Wort, „dass die flächendeckende Seelsorge eben passé sei“, heißt in Wirklichkeit, dass die Kirche die Menschen verlässt. Und das dreht das Herz der Hirten um. Sie erleben, wie ihr Lebenswerk den Bach hinunter geht, wie es mir eben ein alter Pfarrer gesagt hat.
Es ist irgendwo tragisch, dass diese schleichende Entpersonalisierung der Kirche (die Zeit würde das Gegenteil verlangen) einhergeht mit der maßlosen Überschätzung der Bedeutung von Groß- Events und Massenveranstaltungen, in die Geld und Energie aufwendig investiert werden und die niemals das verlorene Terrain an menschlich-erlebbaren und überschaubaren Strukturen ersetzen können.
Wenn in Frankreich (Poitou) neue Wege mit der Schaffung von Kleingruppen versucht werden, darf man nicht vergessen: In Frankreich beginnt die Seelsorge auf dem offenen Lande weitgehend im Jahre Null. Ich habe im Cantal (Auvergne) einem Priester in den letzten Jahren einmal ausgeholfen. Er hatte 24 Pfarreien. Und sein Nachbar 30. Hier ist die Illusion „Kirche“ auf die Spitze getrieben. Ich würde keinen jungen Menschen zu einer derartigen Berufsausübung ermuntern. Da schützt nicht einmal das Rezept „mach es so gut du’s eben kannst“. Das ist nicht mehr menschlich zu machen. Bei uns aber, das gilt für weite Teile Deutschlands und Österreichs, wäre es noch nicht so weit. Bei uns gäbe es noch immer lebendige Gemeinden, aber bei dem Konzept einer weitgehend asakramentalen Kirche werden wir auch das verlieren, was wir haben.
So sieht der überwiegende Teil der bemühten Priester die Lage. Und darum gibt es die schleichende Entfremdung, die Mentalität „ich mache meine Sache, so gut ich es zuwege bringe, aber die da oben verstehe ich nicht, und sie sind mir auch keine Hilfe. Denn ich vermag in dieser Überakzentuierung menschlicher Ordnungen und zentralistischer Machtstrukturen nicht den Geist Jesu zu erkennen.“
Es gibt natürlich Gruppierungen, die mit all dem völlig einverstanden sind. Aber diese Gruppierungen, die als movimenti bei jeder Gelegenheit gelobt werden, sind inWirklichkeit in der Seelsorge wenig präsent. Sie leben sich, und ihren Priestern werden acht-, zehn-und fünfzehntausend Gläubige umfassende Großräume nie zugemutet. Sie sind in den römischen Dekasterien präsent, und irgendeine Kritik nach oben werden sie sich nie leisten.
Bei den letzten Jahrgangsexerzitien einer deutschen Großdiözese ist bei dem Besuch des Bischofs (der sehr geschätzt wird) der Sprecher der ganzen anwesenden Priesterschaft aufgetreten und hat gesagt: „Herr Bischof, Sie dürfen nicht nur die Anliegen Roms zu uns bringen, sie müssen heute vor allem auch unsere Anliegen nach Rom bringen.“
Das wird schwierig sein. Aber ich bete (mehr kann ein Altbischof nicht tun), dass der Herr meiner Kirche ein hörendes Herz schenke, wie es sich Salomon erbeten hat.
Da ich aus Ihren Worten spüre, verehrter Herr Professor, dass Sie bemüht sind, das Beste aus der Situation herauszuholen, wollte ich diesen kleinen Erfahrungsbericht an Sie weitergeben.
Die grundsätzlichen Probleme habe ich ziemlich ungeschminkt sowohl Johannes Paul II. wie auch dem damaligen Kardinal Ratzinger gesagt. Damals hatte ich aber noch nicht die Bestätigung durch die ausgedehnte Exerzitienarbeit im deutschen Sprachraum.
Meine Tippfehler müssen Sie entschuldigen. Ich bin mit den Augen nicht mehr besonders gut.
Ihnen wünsche ich Gottes Segen für Ihr Wirken. Manchmal gehe ich in die Krypta der Jesuitenkirche in Innsbruck und weiß mich dort zutiefst eins mit den verehrten Lehrern und großen Geistern.
Mit herzlichem Gruß
Ihr gez. Reinhold Stecher.
Altbischof Reinhold Stecher gestorben
Der römisch-katholische Altbischof von Innsbruck ist am Dienstagabend im 92. Lebensjahr nach einem Herzinfarkt verstorben. Er hat 16 Jahre lang die Geschicke der Diözese Innsbruck geleitet und sich stets für eine „offene Kirche“ eingesetzt.
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1 Kommentar:
R.I.P.!!! Er war wirklich einer der besten österreichischen Bischöfe der letzten 40 Jahre, weil einer der konzilstreuesten und konsequentesten! Und eine markante Persönlichkeit, was angesichts weitgehend gesichtsloser und farbloser Mitglieder des gegenwärtigen Episkopats nicht unerwähnt bleiben soll.
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