Peter Paul Kaspar, ein Seelsorger im Blick auf die Zukunft im christlich-ökumenischen Nachrichtenmagazin KIRCHE IN, Dezember 2010
Ein starker Titel, möchte man sagen. Denn er könnte dazu verleiten, alles Katholische als verlogenes Pack abzutun. Doch die – häufig auch wirklich ehrliche – Frömmigkeit sollte milde stimmen: Zumeist sind es gutgläubige Selbsttäuschungen. Also nicht bewusst ausgestreute Unwahrheiten, sondern seelischen Mechanismen, die man umgangssprachlich damit bezeichnet, dass „sich jemand in die Tasche lügt". Anders gesagt: ein frommer Selbstbetrug als ein verständlicher Versuch, sich das Leben und den Glauben leichter zu machen, indem man Autoritäten vorschiebt, ewige Wahrheiten proklamiert und sich selbst und sein kritisches Denkvermögen beschwichtigt. Insgesamt ist es das Krankheitsbild einer hierarchisch strukturierten Glaubensgemeinschaft – die Folge eines autoritären Systems.
Um es auf den Punkt zu bringen: Meiner – der katholischen – Kirche ist es bisher nicht gelungen, ihre einfachen Mitglieder, Männer und Frauen in gleicher Weise, als selbständig denkende und entscheidende Christen zu verstehen und erst zu nehmen. Die katholische Glaubensdiktatur – um es auch einmal schroff und unfreundlich zu benennen – ist noch immer nicht in der Welt der Gleichberechtigung, der allgemeinen Bildung und der bürgerlichen Autonomie angekommen. Ein sich unfehlbar verstehender Papst, umgeben von gehorsamen Höflingen in den Rängen der Kardinäle und Bischöfe, herrscht über eine Herde, die sich schon lange nicht mehr aus ungebildeten, gehorsamen und unentschiedenen Schafen und Lämmern zusammensetzt. Denn die wollen die Lehre wohl hören, aber nicht unkritisch befolgen. Fazit: Es wird immer schroffer geherrscht und immer weniger gehorcht.
Die Ratlosigkeit der Oberhirten
Viele Oberhirten führen – wenigstens in Europa – einen feudal-herrschaftlichen Lebens- und Regierungsstil in ihren Palais und Bischofshöfen. Aber die Unterhirten folgen immer weniger und machen mit den bockigen Schafen aus der aufbegehrenden Herde gemeinsame Sache: Kirchenvolksbegehren, Gehorsamsverweigerung, klerikale Eigenmächtigkeiten von liturgischen und kirchenrechtlichen Abweichungen bis zur Missachtung des Zölibats. Früher gingen die Hirten voran und die Herde folgte ihnen mehr oder weniger gehorsam. Heute schreiten die Schafe voran – nicht immer in geordneten Bahnen und gar nicht mehr so ordnungsbedürftig wie ehemals. Die verwirrten Hirten stehen ratlos herum – zweifelnd ob sie den greisen Oberhirten in seiner zunehmenden Einsamkeit trösten, oder den eigenmächtigen Lämmern und ihren Unterhirten beistehen sollen.
Die Verlierer sind die Bischöfe, deren verschleierte Lebenslüge darin besteht, dass sie als prunkvolle Repräsentanten einer morbiden Kirchenherrschaft eine Befehlsgewalt simulieren müssen, die sie schon längst verloren haben. Manche von ihnen sonnen sich noch im Abglanz des Papstes als untergehende Sonne. Manche lavieren zwischen Rom und dem Kirchenvolk. Und nur wenige wissen sich als Hirten vor allem der Herde verpflichtet und wagen es daher, das päpstliche Missfallen auf ihre müden Schultern zu laden. Deutlich äußert sich die gequälte Bischofsseele häufig beim Antritt der Pension im mittleren Greisenalter von 75 Jahren: Dann erst wird jene Hierarchiekritik laut, die man sich durch die Jahre des hierarchischen Doppellebens verkneifen musste. Man sollte ihnen diese späte und verhaltene Ehrlichkeit vergönnen. Auch späte Einsicht ist gut.
Identität und Wandel
Die „stets unveränderte Lehre der katholischen Kirche" hat sich als fromme Lüge entpuppt: Tatsächlich sind viele der katholischen Lehren, Bräuche und Regeln im Laufe der Kirchengeschichte entstanden, vergangen und verändert worden. Man mag darin ein Zeichen der Lebendigkeit sehen. Denn was sich nicht mehr bewegt, ist tot. Man kann den Bewegungsdrang hemmen, Energien aufstauen und Gesetze wie Fesseln anlegen. Doch der endgültiger Stillstand wäre das Ende der Kirchengeschichte. Das aber ist keineswegs zu befürchten, denn unter der Decke der hierarchischen Vorschriften und Verordnungen bewegen sich unentwegt in heiterer Lebendigkeit die vielen disziplinären, liturgischen und pastoralen Eigenmächtigkeiten. Unter der Oberfläche der obrigkeitlichen Kirchenordnung brodelt das pralle Leben des kreativen Ungehorsams der Christinnen und Christen und ihrer Gemeinden.
Neues Leben entsteht nur in der Dialektik von Identität und Wandel. Der Abschied von veralteten Ordnungen ist die Bedingung für eine lebendige Kirche. Deshalb gilt es, Abschied zu nehmen von bisherigen Formen des Katholizismus. Manche werden meinen, damit zerbräche die Kirche – andere erwarten sich daraus neues Leben und neue Lebendigkeit. Doch es hat immer zum Wesen der Kirche gehört, dass sie ihre Identität nur im Wandel gewinnt. Identität und Wandel sind keine Gegensätze, sondern sie bedingen einander: Nur wer sich wandelt, bleibt er selbst. Unwandelbarkeit gibt es nur im Tod. Eine Kirche, die sich der Verwandlung verweigert, stirbt. In der Geschichte hat sich die Kirche aus all ihren Siechtümern durch Reformen gerettet: eher von unten als von oben, manchmal schleichend, doch auch revolutionär. Ob von oben oder unten – es hat ihr gut getan. Und das sind heute die Bedingungen des Wandels:
· Das Ende des Katholizismus als Männerreligion: Wahrhaft katholisch – also allgemein und allumfassend – wird die Kirche nur, wenn sie aufhört, eine Männerreligion zu sein. Das beginnt bei ihrem männerbündischen Herrschaftsdenken, betrifft ihre männlichen Hierarchien und ihr männlichkeitsfixiertes Priesterbild.
· Das Ende des Katholizismus als Priesterreligion: Eine Kirche, die für ihre Nichtpriester noch immer keinen besseren Ausdruck als „Laien" gefunden hat, sollte bedenken, dass aus Klerikern allein – ohne das so genannte „Volk Gottes" – noch keine Kirche möglich ist. Die Amtsträger sind für das Kirchenvolk da – und nicht umgekehrt.
· Das Ende des Katholizismus als Dogmenreligion: Der Glaube an Dogmen ist zutiefst dubios. Der Christ glaubt an Gott, glaubt an Christus – nicht jedoch an Sätze, Formeln und Gesetze. Formulierungen sind notwendig, aber sie sind zeitgebunden – sie erleiden den Tod der Buchstaben. Doch sie können den Geist bekunden, aus dem wir leben.
Abschied als Bedingung für die Ankunft
Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65) war ein mutiger Aufbruch in eine neue Epoche der Kirchengeschichte. Damals wurde proklamiert, wohin die Wanderung geht. Es wurde jedoch verschwiegen, wovon wir Abschied nehmen müssen. So blieben gewichtige Gegensätze unversöhnt stehen: etwa das alte Dogma von der alleinseligmachenden Kirche. Es wurde nie aufgehoben. Die damals gestiftete Freundschaft und Nähe zu den getrennten christlichen Kirchen und der damals proklamierte Respekt vor den anderen Religionen blieb als unversöhnter Gegensatz zu diesem alten Glaubenssatz bestehen. Der Abschied von einer alleinseligmachenden Kirche ist die Bedingung einer dauernden ökumenischen Freundschaft und eines respektvollen Dialogs mit den Weltreligionen. Dieser Schritt ist zu tun.
Denn: Nur wer sich verändert bleibt er selbst. Identität ohne Wandel gibt es nicht. Die „stets gleichbleibende Lehre der Kirche" ist ein Fetisch. Das vermeintlich „unfehlbare Dogma" bringt nicht die Sicherheit, die man sich von ihm verspricht, sondern bewirkt erst das, was den Glauben bedroht: Die Erstarrung in der Formel. Nur der Suchende lebt in der Wahrheit. Der Christ ist wie jeder nachdenkliche Mensch auf der Suche. Wer das im Blick auf Christus tut, ist ein Christ. Und: Die Wahrheit ist nicht zu haben. Wer meint, „im Besitz der Wahrheit" zu sein, irrt. Wir alle sind auf der Suche. Auch der Papst. Der „Versuch, in der Wahrheit zu leben", besteht in der Suche. Gefunden wird anderswo – wenn überhaupt. Wer dogmatisch mit dem Anspruch auftritt, „im Besitz der Wahrheit" zu sein, verspricht, was er nicht halten kann: die letzte Sicherheit in Fragen des Glaubens. Glauben ist immer riskant. Wie auch das Vertrauen. Wie auch das Lieben...
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5 Kommentare:
Man will dem Schreiber zurufen:
Hey Kaspar, wach endlich auf aus deinem Schlaf und schüttel den Mief der 60er und 70er ab!
Lieber Pfiffikus,
dazu sage ich wiederum: Theologen wie Kaspar schöpfen aus einer keineswegs "miefigen", sondern vielmehr von einem großartigem Aufbruch geprägten Zeit, eben aus der Zeit des Konzils. Und falls du meinst, ab den 80ern wäre alles super geworden, dann schau dir nur die Austrittszahlen und viele Bischofsernennungen und deren Auswirkungen an!
Die katholische Kirche wird ihre derzeitige Krise ohne Neubesinnung auf das Zweite Vatikanum nicht meistern können, dessen bin ich mir sicher.
Liebe Grüße, Schillebeeckx
wie kann man das Wort "Aufbruch" auch nur denken für den Zeitpunkt wo durch das Freimaurer-Konzil ein in der Geschichte nie gekannter Abbruch in der katholischen Kirche begann
- Abbruch der Glaubensvermittlung an Kinder
- Abbruch der Verkündigung der Wahrheit
- Einbruch des Gottesdienstbesuchs (Kein Volk mehr ausgerechnet in der fürs Volk gemachten Liturgie)
- Einbruch der Seminaristenzahl
- Abbruch der klösterlichen Tradition und Untergang zahlreicher Orden
- deshalb heute: Abbruch von Kirchengebäuden
Lieber Herr Pfiffikus, wenn Sie so pfiffig sind, wie ist es im Hochmittelalter mit der Kirche gewesen? Und wer war damals schuld? Oder fängt bei Ihnen die Kirchengeschichte erst mit dem Konzil von Trient an? Haben Sie schon etwas über sozio-kulturelle Gründe gehört? Natürlich nicht, wichtig ist, dass man alles den Freimauern anlasten kann. Irrglaube ist auch ein Glaube ...
Die Kirche hatte immer wieder schwere Zeiten und es gab wohl kein Jahrhundert, in dem sie nicht bekämpft wurde und sich mit inneren und äußeren Feinden herumschlagen mussten.
Aber dass der Glauben im Volk völlig verdunstet, das hat erst das Konzil möglich gemacht. Und aus diesem völligen verschwinden des Glaubens resultieren viele weitere Probleme, mit denen wir heute zu kämpfen haben (bspw. der Kindermangel, weil man Kinder entgegen Jesu Auftrag, der sich in der päpstlichen Lehrmeinung fortschreibt, verhütet und abtreibt)
Auf genau welche Vorfälle Sie im Hochmittelalter (12. Jh. und die Jahrzehnte davor und danach) anspielen, kann ich bestenfalls erraten. Ihr Kommentar verrät dies nicht. Da wurden z.B. die Karmeliten, Franziskaner, Dominikaner und Augustiner gegründet. Orden, die in der Nachkonzilszeit an die Wand gefahren wurden, jetzt an ihrer Existenzgrenze herumkrebsen und in wenigen Jahren, wenn die letzten - vorkonziliar sozialisierten - Mitglieder tot sind, zumindest in Europa ausgestroben sein werden.
Was für ein grandioser "AUFBRUCH"!
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